24. November 2021
Die Ampelkoalition möchte mehr Fortschritt wagen. Sie wagt jedoch vor allem die »Entfesselung des Kapitals«.
Christian Lindner bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags, am 24. November 2021.
Mehr Fortschritt wagen« titelt der Koalitionsvertrag. Wüsste Willy Brandt, dass sein Ausspruch der sozialliberalen Koalition nun derart pervertiert wird, würde er sich vermutlich im Grab umdrehen. Denn das »Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit« trägt die Handschrift der Liberalen, oder besser gesagt: der Marktradikalen. Diese Art der liberalen Unterwanderung fällt nicht einmal auf, weil das Fortschrittsnarrativ bestens ins Programm der Scholz-Anhänger in der SPD passt. Lindner ist das perfekte Alibi für den Kurs von Olaf Scholz, der sozialpolitisch zwar das Schlimmste abfedert (Mindestlohn, Rentenalter), aber in entscheidenden Punkten bleiben sie auf neoliberaler Spur: Entfesselung der Arbeitszeitregelung, Prüfung der Rentenprivatisierung und Fokus auf private Investitionen.
Im Koalitionsvertrag werden notwendige Wege zur Reform der Schuldenbremse eingeschlagen – so wird unter anderem ein Klimafonds gegründet, die Bahn für weitere Kredite ermächtigt und die coronabedingte Aussetzung der Schuldenbremse genutzt. Da nun aber Lindner und nicht Habeck Finanzminister wird, könnte es noch an der Umsetzung scheitern. Im Vergleich zu früheren Koalitionsverträgen, in denen Investitionsvorhaben in der Regel quantifiziert wurden, werden im Koalitionsvertrag der Ampel keine Zahlen genannt. Fest steht lediglich, dass man alles Notwendige realisieren wolle. Das mag stimmen, aber wird spätestens an Lindner scheitern.
Zwar kann sich die SPD zentrale Ministerien sichern (Arbeit, Gesundheit, Verteidigung, Bauen und Wohnen), doch den Handlungsrahmen wird vor allem das FDP-geführte Finanzministerium festlegen. Da sie sowohl Steuererhöhungen ablehnen als auch grundsätzlich an der Schuldenbremse festhalten, ist der 1,5-Grad-Pfad, auf dem Robert Habeck vor allem geistig wandelt, blockiert. Alle großen Versprechen von Aufbruch und Modernisierung werden nicht eingelöst werden können, weil es an der Finanzierung scheitern wird.
Wie Olaf Scholz bei der Vorstellung ankündigt, wird der Koalitionsvertrag bereits in den nächsten zehn Tagen bei den jeweiligen Parteien durchgepeitscht. Kaum Zeit, um den »Aufbruch« noch aufzuhalten. Wir bekommen also noch vor Weihnachten eine Regierungskoalition, von der Christian Lindner gönnerhaft behauptet, dass »Sozialdemokraten und Grüne stolz sein« können. Er bezeichnet sie als Koalition der »Mitte«, meint aber ein neues marktliberales Zentrum, das den Status quo verwaltet. Der rote Faden: Der Staat darf Sachen machen, solange die Reichen daran verdienen können.
In den letzten Jahrzehnten wurden fast alle Steuern für Reiche drastisch gesenkt, für die große Mehrheit haben sie sich jedoch direkt oder indirekt erhöht. Die kalte Progression verschlingt Mittelstandsgehälter und die Mehrwertsteuererhöhung frisst kleine Einkommen. Im Wahlkampf waren sich die Ampel-Parteien einig: Geringverdienende und die Mittelschicht müssen entlastet werden. Das erweist sich nun als leere Wahlkampfrhetorik.
In den Verhandlungen hörte man immer wieder, dass die Steuersenkung an der Gegenfinanzierung scheitere. Das ist die Endstufe des Unsinns der Schuldenbremse: Nur weil man eine Steuer senken möchte, muss man die gleiche Steuer für Reiche nicht erhöhen. Selbst mit der FDP wäre eine Senkung der Einkommensteuer für Geringverdiener und die Mittelschicht möglich gewesen, wenn man eine andere Steuer erhöht oder gar auf eine andere Ausgabe verzichtet hätte. Anscheinend stand das bei SPD und Grünen jedoch ziemlich weit unten auf der Prioritätenliste. Am Ende könnten hier die Reichen wieder gewinnen. Denn die FDP setzt bei der Soli-Abschaffung auf das Bundesverfassungsgericht, das den Soli kippen könnte. Dass die Einkommen- und Kapitalertragsteuer dann wieder um den Soli erhöht wird, ist mit Lindner als Finanzminister undenkbar. Er wird seinem Wahlkampfdogma treu bleiben: Mit uns wird es keine Steuererhöhungen geben.
Was die Ampelkoalition schafft: Sie einigt sich gesellschaftpolitisch an zentralen Positionen und löst sich tatsächlich ein Stück von dem seit sechszehn Jahren festgefahrenen Status quo, etwa beim Schwangerschaftsabbruch, der Cannabis-Legalisierung oder der Reformierung des Staatsbürgerschaftsrechts. Diese Fortschritte dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Koalition die wesentlichen Fragen der Ungleichheit unangetastet lässt. Sie ist nicht »progressiv«, bloß weil sie die Blockade der CDU an einigen Stellen lockert.
Ebenso können wir keine »feministische« Außenpolitik von Annalena Baerbock erwarten, wenn ein von ihr geführtes Außenministerium doch Kampfdrohnen einsetzen will. Es ist dieser oberflächliche Anstrich der Progressivität, der darüber hinwegtäuschen soll, dass unter dem Deckmantel des Fortschritts die mitunter größten militärischen Einsätze oder weitreichende Eingriffe in den Sozialstaat vorgenommen werden.
Auch die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre ist zwar ein Zugeständnis an eine Jugend, die über die Klimapolitik politisiert wurde, aber darüber hinaus kein Fortschritt für die Demokratie. Im Gegenteil – für eine Koalition, die sich tatsächlich auf Willy Brandt beruft, ist es ein starkes Stück, überhaupt nicht an den Prozessen politischer Entscheidungsfindung zu rütteln. Von Beteiligung der Bevölkerung am »Aufbruch« kann keine Rede sein, alle sogenannten Modernisierungsvorhaben werden über die Köpfe der Menschen hinweg geschehen. Das Potenzial an Frustrierten und Nichtwählern wird sich sicher noch erhöhen.
Die geläuterten Konservativen werden sich die Hände reiben: Nicht nur sind sie die leidige Corona-Politik los – und auch das gesamte Fiasko im Gesundheitsbereich, das die Große Koalition hinterlassen hat. Sie können die Ampelkoalition direkt zu Beginn in die vierte Welle schlittern lassen. Die CDU kann sich nun mehr oder weniger in Ruhe konsolidieren. Friedrich Merz’ Chancen auf den Parteivorsitz waren noch nie so groß, vorausgesetzt er stellt sich machtpolitisch nicht ganz so dumm an wie in den vorigen Anläufen. Um das ohnehin schon marktradikale Zentrum der Ampel flotiert nun also auch noch eine konservativ-freiheitliche Opposition, die im Zweifel ideologisch von der AfD gestützt werden wird.
Dagegen hat es die Linke nun besonders schwer: In der Regierung werden die jeweils linken Flügel – oder das, was davon übrig ist – ins Regierungseinerlei eingepreist und auf der Oppositionsbank hadert die Linkspartei mit sich selbst und ihrer geschrumpften Fraktion. Das neue Zentrum hat es da besonders leicht, weil es die Angriffe der Opposition immer mit der Aussage parieren wird, eine Koalition des Fortschritts zu sein. Genau da wird man sie angreifen müssen, und darf sich vom Etikettenschwindel des Fortschritts nicht täuschen lassen.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.
Lukas Scholle ist Volkswirt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Deutschen Bundestag und Kolumnist bei JACOBIN.